Der Weihnachtsmann und das Metaverse

Weihnachtsmann Klaus kaut nervös an seinen Fingernägeln. Gerade hat er den Investment-Pitch zur Wichtel-App von Engel Gabriel via interaktivem Link an CocaRola versendet. Ob die Präsentation, die seine Digitalisierungsbeauftragte Marie gemeinsam mit dem Start-up pretono erstellt hat, tatsächlich Wirkung zeigt und sie die 400.000 XmasDollar Investment erhalten werden? Im Sekundentakt drückt Klaus die Tastenkombination command + R auf seinem XmasBook undist dabei mächtig stolz, sich diesen Refresh-Befehl gemerkt zu haben. Seitdem er gemeinsam mit Knecht Ruprecht, Erzengel Gabriel, Himmelspförtner Petrus, Elfen-Millenial Marie und Ober-Elf Findus die digitale Xmas-Transformation gestartet hat, hat er jede Menge dazugelernt.

Zwanzig Minuten später hat Klaus bereits die ersten Krampfanfälle in den Fingern. CocaRola hat noch immer nicht geantwortet – und das obwohl die Marketing-Chefin bei ihrem letzten Boom-Gespräch versprochen hatte, sich sofort nach Erhalt zu melden. „Jetzt mach dir mal keine Sorgen, Klaus!“, versucht Elfin Marie ihren Chef zu beruhigen. „Frau Zisch ist eine vielbeschäftigte Frau und wird bestimmt bald antworten. Außerdem können wir dank dem Analyse-Tool von pretono ja ganz genau auswerten, wann und wie lange sie sich welche Slides, Links und Informationen unseres Pitches angesehen hat. Komm jetzt besser mit in die Geschenke-Werkstatt, Findus braucht dringend unsere Hilfe.“ Klaus seufzt. Es ist ihm immer noch ein Rätsel wie diese Technik funktioniert. Doch Marie hatte recht – sie müssen sich ranhalten, damit sie alle ihre Pläne noch umsetzen können, bevor die da oben dazwischenfunken und die digitale Transformation an sich reißen.

Marie und Klaus laufen vom Besprechungsraum des Xmas-Digitalisierungsteams durch die verschlungenen Gänge zur Geschenke-Werkstatt. Als sie ankommen, können sie ihren Augen kaum trauen. Von der Werkstatt ist kaum noch etwas zu sehen. Einzig Ober-Elf Findus ist in der Geschenke-Flut zu entdecken, die nun den gesamten Raum ausfüllt. Flink scannt er mit der Beta-Version der Wichtel-App auf seinem Xmas-Phone die wild verstreuten Päckchen und versucht, diese möglichst smart zu kategorisieren. „Was ist denn hier passiert?“, entfährt es Klaus. Findus fährt ruckartig herum. Als er den Weihnachtsmann entdeckt, springt er von einem Geschenke-Berg zum nächsten, bis er keuchend bei Klaus und Marie ankommt. „Die Idee mit den Preloved-Presents ist bei den Elfen-Kollegen so gut angekommen, dass sie diese auf ihren Accounts bei Fakebook, InstaFram, TikTak, BeTrue, Glitter, Muskodon & Co geteilt haben. Es gibt sogar eine eigene WhatsThat-Gruppe, die zum Spenden von Geschenken aufruft“, sprudelt es aus Findus. Klaus versteht mal wieder nur Bahnhof. „Meine Idee ist viral gegangen und nun haben tausende User aus der Community Geschenke vergangener Weihnachtsfeste an uns geschickt. Der Sustainability-Gedanke hat voll eingeschlagen.“

„Das ist ja alles schön und gut. Doch was tun wir jetzt mit den ganzen Päckchen? Wir müssen doch die Wünsche von den Wunschlisten erfüllen“, fuchtelt Klaus aufgeregt mit den Armen. „Und genau da kommt die Wichtel-App ins Spiel!“, ruft Erzengel Gabriel, während er hinter einem Berg Preloved-Presents vorbeifliegt. Er landet so schwungvoll bei Klaus, Marie und Findus, dass ein paar seiner goldenen Engelshaare an den Tannenzweigen, die zur Dekoration über der Eingangspforte zur Geschenk-Werkstatt platziert sind, hängen bleiben. „Ich bin bereits dabei, der Beta-Version ein Update zu verpassen und die eingesendeten Geschenke mit den Wunschzetteln zu matchen. Wir kreieren quasi das Xinder für Geschenke.“ „Geniale Idee!“, entfährt es Marie. „So können wir direkt skalieren und die App erhält einen noch größeren Mehrwert. CocaRola wird begeistert sein. Diese Info müssen wir direkt in unseren Pitch einfügen.“ Marie will bereits losrennen, da hält Gabriel sie zurück. 

Der Erzengel druckst verlegen herum. „Was ist los? Nun sag schon!“, fordert Marie Gabriel ungeduldig dazu auf, endlich mit der Sprache rauszurücken. Gabriel wird ganz leise. Schon wieder sind keine Kobolde zur Stelle, um seine schlechten Nachrichten zu überbringen. Er holt tief Luft, kneift die Augen zusammen und murmelt mit zusammengebissenen Zähnen: „Um die App entsprechend auszubauen und treffsichere Matches zu garantieren, benötigen wir mindestens zwanzig weitere Software-Developer. Das heißt, zu dem bereits geforderten Investment benötigen wir noch einmal weitere 400.000 XmasDollar.“ Klaus, Marie und Findus weicht die Farbe aus dem Gesicht. „Das war’s dann wohl für uns. CocaRola wird sicher nicht so viel springen lassen und die da oben werden uns für verrückt erklären, wenn wir mit derartigen Forderungen kommen.“

Verzagt trommelt Klaus mit den Fingerspitzen auf ein kleines, tannengrün verpacktes Geschenk ein, als Knecht Ruprecht in die Werkstatt poltert: „Kommt schnell mit, wir haben eine Antwort von CocaRola!“ Ohne zu zögern laufen Klaus und seine himmlischen Helfer los. Im Besprechungsraum angekommen, öffnet Klaus die Emails auf seinem XmasBook.

Lieber Weihnachtsmann Klaus,
mit Freude darf ich Ihnen mitteilen, dass CocaRola die digitale Transformation von Weihnachten mit 400.000 XmasDollar unterstützt. Nach Absprache mit unserer Innovationsabteilung ist dieses Investment jedoch an die Bedingung geknüpft, dass Weihnachten künftig auch im Metaverse stattfinden wird. Wir haben uns die Freiheit genommen, uns gleich auch die Zustimmung von denen da oben zu holen und freuen uns, Ihnen anbei den entsprechenden Beteiligungsvertrag senden zu dürfen. Wir können es kaum erwarten, gemeinsam mit Ihnen das Weihnachtsfest zu revolutionieren!
Mit lieben Grüßen
Champagna Zisch

Unglaublich, sie hatten es geschafft! Mit CocaRola an Bord würde es ein Leichtes sein, einen weiteren Investor für die zweite Hälfte der benötigten Investment-Summe für die Wichtel-App zu finden. Klaus wippt vergnügt von den Fersen auf die Zehenspitzen und hält dabei seinen kugelrunden Bauch. Als er freudig in die niedergeschlagenen Gesichter seines Digitalisierungsteams blickt, merkt er, dass er mal wieder etwas verpasst hat. „Weihnachten im Metaverse – ein wahr gewordener Albtraum.“ Gabriel lässt sich schwermütig in den leicht abgewetzten Ohrensessel fallen, in dem Klaus für gewöhnlich nach dem Mittagessen seinen Powernapp hält. „Ich verstehe ja, dass wir mit der Zeit gehen und uns anpassen müssen. Aber was hat eine Welt aus Nullen und Einsen mit dem Fest der Liebe zu tun?“ 

„Die gute Nachricht ist, dass die da oben bereits ihren Segen gegeben haben. Somit sollten unsere Jobs vorerst safe sein,“ überlegt Marie, während sich Gabriel und Ruprecht über die Sinnhaftigkeit des Metaverse ereifern. Klaus setzt sich indessen still und leise an sein XmasBook. Mittlerweile weiß er, wie er Informationen online abfragen und mit neuem Wissen glänzen kann. Mit spitzen Fingern tippt er den Begriff Metaverse in die Moogle-Suchleiste und öffnet den passenden Kikipedia-Eintrag:

Ein Metaversum oder Metaverse ist ein digitaler Raum, der durch das Zusammenwirken virtueller, erweiterter und physischer Realität entsteht. Hauptaspekt ist es dabei, die verschiedenen Handlungsräume des Internets zu einer Wirklichkeit zu vereinigen. Das Konzept wird häufig mit einem starken Fokus auf virtuelle Sozialität beschrieben; eine zukünftige Iteration des Internets, in Form persistenter, gemeinsam genutzter, virtueller 3D-Räume, die zu einem wahrgenommenen virtuellen Universum verbunden sind. Solche sollen Individualisierung und alltägliche Aktivitäten in einem vergleichbaren Maße ermöglichen wie die physische Wirklichkeit.

Klaus schluckt. Virtuelle Sozialität, persistente 3D-Räume, virtuelles Universum – was würde wohl noch alles auf ihn zukommen? In den mehr als 150 Jahren, in denen er nun als Weihnachtsmann arbeitet, hatte sich kaum etwas verändert. Und nun soll innerhalb einer Xmas-Saison alles anders werden. Nicht nur, dass er mit diesem ufomäßigen Tekla XAE-12 die Geschenke ausliefern muss – die da oben hatten doch tatsächlich einen Knebelvertrag mit diesem größenwahnsinnigen Milliardär Elon Dusk abgeschlossen, der Rudolph und die anderen Rentiere in Rente schickt – jetzt soll er auch noch in einer künstlichen Parallelwelt Weihnachtszauber verbreiten. Doch die da oben können sich auf etwas gefasst machen. So schnell würde Klaus nicht aufgeben – und er hatte auch schon einen Plan. 

Während Gabriel, Marie und Ruprecht aufgeregt miteinander diskutieren, schleicht Weihnachtsmann Klaus aus dem Besprechungsraum des Xmas-Digitalisierungsteams und läuft zum Schlittenparkplatz. Als er den silberglänzenden Tekla XAE-12 entdeckt, stellt es ihm die Nackenhaare auf. Dass er seine Reisen künftig nicht mehr mit Rudi und der Rentier-Gang machen würde, tat ihm im Herzen weh. Doch darüber konnte er sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Er muss schnell ins weihnachtliche Innovationszentrum flitzen. Kurzerhand schnappt er sich die Speed-Ski von Marie, stößt sich schwungvoll ab und wedelt geschmeidig den Tiefschneehang hinab. Auch wenn er über die Jahre immer mehr an Gewicht zugelegt hat und mittlerweile etwas schwerfällig durch die Schornsteine klettert – beim Skifahren fühlt er sich, als wäre die Zeit stehen geblieben. Beim Xmas-Hub angekommen, bremst Klaus so schwungvoll ab, dass es einen Schwung Puderschnee in Richtung Eingangstüre schleudert, in der bereits Matthias Schlaumann auf ihn wartet. 

Matthias klopft sich den Schnee von seinem dunkelblauen Anzug, während ihm Klaus entschuldigend zunickt und die Speed-Ski im dafür vorgesehenen Ständer abstellt. „Die Außenwirtschaft Nordpol hat kürzlich eine Internationalisierungsoffensive gestartet“, verliert Matthias, der gerade erst seine Nordpol-Dependance im weihnachtlichen Innovationszentrum eröffnet hat, keine Zeit und berichtet Klaus noch am Weg zu seinem Büro von einem Programm namens FlyUSA, das weltweit mit Investoren kooperiert. „Neben zahlreichen Mentorings und Workshops hast du hier die Gelegenheit, den Ausbau der Wichtel-App zu pitchen und Partner für die Xmas-Transformation ins Metaverse zu finden.“ Klaus war beeindruckt. Er hat bereits in zahlreichen Online-Werbevideos – mit denen er, seit er Matthias Schlaumann das erste Mal gemoogelt hat, regelrecht bombardiert worden war – von dessen Berater-Fähigkeiten gehört. Nun konnte er endlich selbst vom Wissen und Netzwerk des „Berufung Bürgertum“-Gründers profitieren.  

Als Weihnachtsmann Klaus zwei Stunden später in die Geschenk-Werkstatt zurückkehrt, ist alles fixiert: Er wird am FlyUSA Programm teilnehmen und sich bereits morgen auf den Weg nach New York machen, um im Big Apple nach Investoren und Partnern zu suchen. Schnell trommelt Klaus sein Digitalisierungsteam zusammen. „Wo ist Petrus?“, will Klaus wissen. „Die da oben haben ihn wieder ins Home-Office geschickt“, berichtet Ruprecht. „Er soll jetzt dauerhaft remote arbeiten.“ „Und das ausgerechnet jetzt, wo wir unsere gesamte Manpower brauchen, um unser Pitchdeck up to scratch zu bringen? Er muss sofort herkommen!“ Klaus ist verärgert, aber gleichzeitig mächtig stolz auf seine internationale Ausdrucksweise, die er sich mithilfe von Matthias Schlaumann in Rekordtempo angeeignet hat. Marie kann sich ihr Lachen nicht verkneifen. „Mach dir keine Sorgen Weihnachtsmann! Mit der Präsentationssoftware von pretono können wir dank zentralem Datenmanagement auch von unterschiedlichen Standorten aus zusammenarbeiten. Petrus muss also nicht extra herfliegen. So sparen wir jede Menge Zeit.“ 

Mit seinem XmasBook und einer gigantischen Ladung Plätzchen im Gepäck klettert Klaus verschlafen in den Tekla XAE-12. Gemeinsam mit Marie, Gabriel, Ruprecht und Petrus hat er die ganze Nacht durchgearbeitet und nicht nur das Pitchdeck für die Wichtel-App perfektioniert, sondern auch eine Präsentation zum Thema „Weihnachten im Metaverse“ erstellt. Er war beeindruckt, was sein Team in so kurzer Zeit zustande brachte. Gerne hätte er es in den Big Apple mitgenommen. Doch die vier mussten sich jetzt auf den Ausbau der App konzentrieren, Software Developer rekrutieren und Findus beim Kategorisieren, Verpacken und Matchen der Preloved Presents helfen. Als der Weihnachtsmann schließlich in die Sportsitze sinkt, ist er so müde, dass er sich gar nicht mehr über sein ungeliebtes Gefährt echauffieren kann. Entkräftet drückt er auf „Autopilot“, lehnt sich zurück und fällt in einen tiefen, traumlosen Schlaf. 

Wummm! Klaus wird von einem dumpfen Aufprall geweckt. Sein Herz rast. Ein schneller Blick aus dem Fenster verrät ihm, dass er sich in einer Garage befindet. Wenn er mit Rudolph und seinem Schlitten durch die Nächte flog, wusste er immer sofort, in welcher Stadt er sich gerade befand. Schließlich landeten sie stets auf dem Dach des höchsten Hauses und hatten so immer einen fantastischen Ausblick auf die Umgebung.
Klaus sucht nach einem Anhaltspunkt für seinen Aufenthaltsort, doch hier prangt einzig ein rotes Schild mit der Aufschrift „Tekla Supercharger“ über der Windschutzscheibe. Ob er schon in New York angekommen war? Umständlich klettert der Weihnachtsmann aus dem Auto und begibt sich ans Tageslicht. Ein gelbes Taxi flitzt an ihm vorbei. Er liest das Straßenschild: 212 East 47th Street. Tatsächlich, er war im Big Apple und wenn er nicht ganz falsch lag, nur wenige Blocks vom Times Square und dem North Pole Trade Commission Center, in dem das FlyUSA Programm stattfinden soll, entfernt. 

Der Weihnachtsmann stapft Richtung Westen. Mittlerweile herrscht auch im Big Apple tiefster Winter und der Wind pfeift eisig durch die Straßen und Avenues. Obwohl er vom Nordpol einiges gewohnt ist, setzt ihm die feuchte Kälte etwas zu. Mit klammen Fingern zieht er seine Mütze über die Ohren und fixiert den dicken roten Wollschal, den Frau Klaus extra noch für ihn gestrickt hat, in seinem Mantel. Auf seinem Weg passiert er das südlich gelegene Metlife-Building, nördlich blitzt das Rockefeller Center zwischen den Häuserschluchten hervor. Klaus ist begeistert, normalerweise sieht er die Städte alle nur aus der Vogelperspektive. Endlich kann er das Citylife hautnah erleben. Als er nach circa 15 Minuten am Times Square ankommt, ist seine Nase rot vor Kälte und sein weißer Bart steif gefroren. Er bestaunt die gigantischen, leuchtenden Billboards und siehe da, die neue CocaRola Weihnachtskampagne flimmert über einen der XXL-Bildschirme. Stolz betrachtet er den neuen Werbefilm. Seine schauspielerischen Fähigkeiten wurden von Jahr zu Jahr besser. Als Klaus den Abspann liest, zuckt er zusammen: CocaRola und der Weihnachtsmann bringen Weihnachten ins Metaverse. Melden Sie sich jetzt unter cocarola.com an und feiern Sie ein Fest, das spektakuläre Erlebnisse und fantastische Geschenke frei von den Gesetzen der Schwerkraft und gesellschaftlichen Erwartungen zu Ihnen bringt. 

Wütend tritt Klaus gegen eine Reklametafel. Erst gestern hat er den Beteiligungsvertrag mit der Metaverse-Klausel unterzeichnet und heute flimmert diese Info bereits über alle Werbebildschirme. CocaRola hatte das also von langer Hand geplant. Dass er von einem jahrzehntelangen Partner so gelinkt worden war, versetzt den Weihnachtsmann in Rage. Doch er muss sich beruhigen. Das FlyUSA Programm ging in Kürze los und er sollte gleich vor ein paar Investoren pitchen. Klaus atmet tief durch und macht sich auf den Weg zum North Pole Trade Commission Center, das nur einen halben Block vom Times Square entfernt liegt. Ehe Klaus in den Fahrstuhl steigt, wird er – wie am Flughafen – durch eine Sicherheitskontrolle geschleust. Nachdem sein XmasBook und sein Sack voll Plätzchen ausgiebig durchleuchtet worden sind, bekommt Klaus einen Security-Sticker für seinen Seesack und darf in den Aufzug steigen, der ihn in nur wenigen Sekunden ins zweiunddreißigste Stockwerk bringt. Dort herrscht reges Treiben. „Herr Klaus, wir haben bereits auf Sie gewartet.“ 

Eine freundliche Dame geleitet den Weihnachtsmann in einen großen, gläsernen Meetingraum. Dort sitzen mindestens zwanzig Männer und Frauen in grauen Anzügen und schicken Kostümen um einen überdimensionierten Besprechungstisch. Vor ihnen liegen schwere Notizblöcke und alle haben einen dieser eleganten Montnoir-Stifte in der Hand. Matthias Schlaumann hatte Klaus bereits auf dieses Szenario vorbereitet. Dennoch wird der Weihnachtsmann mit einem Mal wahnsinnig nervös. Mit zittrigen Händen schließt Klaus sein XmasBook an den gigantischen Bildschirm an, der beinahe die gesamte Wand hinter ihm ausfüllt, wählt sich ins WLAN ein und öffnet seine Präsentation.

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wieviele Weihnachtsgeschenke jedes Jahr unbenutzt in der hintersten Ecke eines Schrankes, oder schlimmer noch, im Müll landen? Es sind gigantische 1,75 Millionen Päckchen! Mein Name ist Weihnachtsmann Klaus und ich habe gemeinsam mit meinem Team eine App entwickelt, die genau dieses Problem löst.  

Nachdem Klaus seine anfängliche Nervosität überwunden hat, kommt er richtig in Fahrt. Er berichtet von Wertstoffkreislauf, CO2- und Kosten-Einsparung, Wunschpartnern wie Cbay, willbesitzen und Bringando, dem „buy now, pay later“-Ansatz und der Freude am Schenken und der Freude Gutes zu tun. Als er mit seiner Präsentation fertig ist, prasseln eine Unmenge an Fragen auf ihn ein. Was kostet die App? Wie soll das Geschäftsmodell künftig skaliert werden? Wieviel Wachstum ist für die nächsten fünf Jahre geplant? Perfekt von seinem Team auf diese Fragen vorbereitet, hat der Weihnachtsmann auf alles eine Antwort. Als er gerade dazu ansetzt, sich bei den potentiellen Investoren für das Gespräch zu bedanken, meldet sich eine Dame ganz hinten am Tisch zu Wort. „Wie sehen Ihre Pläne bezüglich Metaverse aus? Kann man dieses Konzept auch virtualisieren?“ Klaus kannte diese schrille Stimme. Es war Champagna Zisch von CocaRola.

Kompliziert verknotet Klaus seine Finger. Er hatte keine Ahnung, wie man Preloved Presents im Metaverse verkaufen könnte. Wenn er ehrlich war, wusste er bis jetzt nicht mal wirklich, was das Metaverse überhaupt war. Anstatt auf die Frage zu antworten, öffnet Klaus nochmal sein XmasBook und drückt auf play. Sofort wird die „Virtual Winterwonderland“-Präsentation abgespielt, die Marie gestern noch schnell vorbereitet hat. Froh über diesen Einfall hofft Klaus, dass sein kleines Ablenkungsmanöver funktioniert. Am Bildschirm erscheint eine traumhafte Schneelandschaft, per Mausklick öffnen sich Adventkalendertürchen, ein „Mariah Carey“-Avatar trällert „Santa Claus Is Comin’ to Town“, eine Weihnachtsmann-Animation klettert durch einen Schornstein, unter einem festlich geschmückten Baum werden Meta-Presents verteilt, in einem Cyber-Basar werden Wunschzettel ausgefüllt und Geschenke getauscht.
Moment Mal, den letzten Teil der Präsentation kannte Klaus gar nicht. Den musste seine schlaue Elfendame nachträglich eingefügt haben. Doch wie war das bloß möglich? Klaus hatte sein XmasBook mitgenommen, nachdem die Präsentation fertig war und seither nicht mehr aus der Hand gegeben. 

Champagna Zisch nickt zufrieden. Gemeinsam mit den anderen Investoren begibt sie sich in den Pausenraum, wo Risiko und Nutzen abgewogen werden. Unsicher, was er als nächstes tun sollte, blickt sich Weihnachtsmann Klaus um. „Hallo, mein Name ist Martin Behrlin. Ich bin einer der pretono-Gründer und wollte die Gelegenheit nutzen, um mich persönlich vorzustellen.“ Klaus schüttelt die Hand des jungen Mannes, der schnurstracks auf ihn zugelaufen kommt. „Meine Mitarbeiter haben mir berichtet, dass Sie unser Tool für Ihre Digitalisierungsinitiative nutzen. Das macht uns natürlich mächtig stolz. Wenn wir Sie irgendwie unterstützen können, geben Sie gerne Bescheid. Ich bin im Rahmen des FlyUSA Programms noch zwei Wochen in New York. Zögern Sie nicht, mich zu kontaktieren.“ Dankbar nimmt Klaus die türkisfarbene Visitenkarte entgegen und will sich gerade nach dem durch Zauberhand hinzugefügten letzten Präsentationsteil erkundigen, da wird ihm schon die nächste Hand entgegengestreckt. 

Bevor sich’s der Weihnachtsmann versieht, hat er einen ansehnlichen Stapel Visitenkarten gesammelt. Der Gründer von Bitbär hat angeboten, ihn in Sachen Kryptowährung zu supporten und mit NFT-Experten zu vernetzen. Non-Fungible Token sind schließlich der neueste Schrei und perfekt für das Metaverse und die Disruption von Weihnachten. Obwohl Klaus keine Ahnung hat, wovon diese jungen Leute sprechen, nickt er wissend. In der Start-up-Welt scheint die digitale Transformation von Weihnachten ein echter Hit zu sein. Mit so viel Hilfe und Zuspruch hat er gar nicht gerechnet. Vielleicht liegen die da oben mit ihren Digitalisierungsforderungen doch nicht so falsch. Das Knurren seines Magens reißt Klaus aus seinen Gedanken. Er hat seit seiner Abreise am Nordpol nichts gegessen. Er angelt eines der Plätzchen aus dem Seesack und will sich gerade auf den Weg zum nächsten Burger-Local machen, als er von einem weiteren Gesprächspartner zurückgehalten wird. 

„Tolle Idee , tolle Präsentation. Wir sind sehr an Ihrer Wichtel-App interessiert und würden Ihnen gerne ein Angebot machen.“ Der Mamazon-Innovationsmanager sieht den Weihnachtsmann mit erwartungsvollen Augen an. Klaus kann sein Glück kaum fassen, er hat tatsächlich jemanden mit seiner Präsentation überzeugt. Obwohl er innerlich vor Freude beinah zerspringt, behält er jedoch sein Pokerface. „Sepp Kezos ist ein großer Fan von Ihnen. Schließlich sieht er sich selbst als eine Art Weihnachtsmann, liefert er doch mit seinem Unternehmen weltweit jährlich mehrere Millionen Pakete aus. Dass sich hier ein großer Teil davon für ein Second Life-Programm eignen würde, ist naheliegend. Ihre Wichtel-App würde somit optimal in unser Mamazon CRIME Programm passen. Ich kann Ihnen daher gerne 1.000.000 XmasDollar für einen Buy-Out anbieten. Und keine Sorge, Sie bleiben natürlich das Gesicht des Preloved Presents-Matchmakers – so würden wir die App übrigens umbenennen und dessen Konzept auch direkt in unser Metaverse integrieren. Eine Due-Diligence-Prüfung ist klarerweise obligatorisch, aber das haben Sie sich sicher schon gedacht. Ich denke, das ist ein fairer Deal, von dem wir beide garantiert profitieren werden.“ 

Klaus raucht der Kopf. Das Angebot klingt wirklich seeehr verlockend, allerdings hat er keine Ahnung, was zum Teufel Buy-Out und Due-Diligence bedeutet und welche Auswirkungen das alles auf die Weihnachts-GmbH hat.Wie gerne hätte er jetzt seine Digitalisierungsbeauftragte Elfin Marie bei sich, die ihm all diese komplizierten Business-Begriffe in Echtzeit übersetzen würde. „Vielen Dank, das Angebot ehrt mich wirklich sehr. Ich werde das gerne mit meinem Team besprechen und mich wieder bei Ihnen melden.“ Klaus macht sich auf den Weg Richtung Aufzug. Sein Magen knurrt mittlerweile so laut, dass es alle Anwesenden hören können. Plötzlich schneidet ihm jemand den Weg ab. Es ist Champagna Zisch. 

„Was für eine beeindruckende Präsentation. Ich konnte nicht anders, als diese direkt an Fakebook-Gründer Mark Salztal weiterzuleiten. Wir haben gemeinsam in Harpvard studiert und realisieren immer wieder gemeinsame Projekte. Er ist von Ihrem Meta-Xmas-Universe und Ihrer Xinder-Idee für Preloved Presents begeistert und möchte mit einer Mehrheitsbeteiligung ins Weihnachtsbusiness einsteigen“, flötet die CocaRola Marketingleiterin. „Kommen Sie doch bitte bald in mein Büro, damit wir einen passenden Marketingplan inklusive Social Media Kampagne ausarbeiten können.“ Klaus ist sprachlos. Dass er von zwei Big Playern innerhalb kürzester Zeit Angebote erhalten hat, macht ihn unglaublich stolz. Doch noch während Frau Zisch enthusiastisch weitere Zukunftspläne schmiedet, breitet sich ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend aus. Wieviel Einfluss würde er künftig noch auf das Weihnachtsfest haben? Bisher musste er sich nur mit denen da oben absprechen. Sollten hier nun weitere Instanzen hinzukommen? Hat er womöglich einen Fehler begangen? 

Verwirrt wirft sich Klaus seinen Seesack über die Schulter und fährt mit dem Aufzug ins Erdgeschoss. Auf dem Weg nach unten beschließt er, sich auf den Rückweg zum Nordpol zu machen. Es war ja wirklich spannend am FlyUSA-Programm teilzunehmen, aber für ihn war dieses Investment-Abenteuer nun zu Ende. Er war gerade Mal einen Tag hier und fühlte sich schon komplett ausgelaugt. Das nächste Mal würde er Marie schicken. Als Digital Native fand sich die Elfin in dieser Start-up-Welt bestimmt bestens zurecht.

Bevor er wieder in den Tekla XAE-12 steigt, muss er jedoch unbedingt noch etwas essen. Mittlerweile hat er solchen Hunger, dass er seinen Gürtel bereits enger schnallen kann. Er legt einen kurzen Stopp bei „Five Guys“ ein, holt sich am Take away-Schalter ein Cheeseburger-Menü in Jumbo-Größe und macht sich auf den Weg zur Garage. Dort angekommen zückt der Weihnachtsmann seine Mustercard. Ganze 55 Dollar muss er für 70 Kilowattstunden an der E-Zapfsäule hinblättern. Davon kann er Rudolph und die Rentiere ein ganzes Monat lang ernähren. Kopfschüttelnd steigt er in seinen Cyber-Schlitten, tippt umständlich am Bordcomputer herum, bis im Navigationssystem Nordpol als Ziel erscheint und drückt auf Autopilot.

Als er wieder sicher im Weihnachtsdorf landet, warten Knecht Ruprecht, Erzengel Gabriel, Himmelspförtner Petrus, Ober-Elf Findus und Elfin Marie bereits auf Klaus. „Wie schön ist es, wieder zuhause zu sein!“ Stürmisch umarmt der Weihnachtsmann seine fleißigen Helfer. „Ihr werdet nicht glauben, was ich in New York alles erlebt habe!“ „Wir wissen bereits Bescheid!“, Marie tritt aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. „Ein Start-up-Gründer des FlyUSA Programms hat gehört, dass du Investment-Angebote von Mamazon und Fakebook bekommen hast. Dass unser nachhaltiger Weihnachtsgedanke künftig von diesen Mega-Konzernen dominiert wird, war ihm nicht geheuer – also hat er kurzerhand einen Online-Spendenaufruf gestartet. Es ist bereits mehr zusammengekommen, als wir benötigen und es wird von Minute zu Minute mehr. Darüber hinaus haben sich bereits unzählige freiwillige Helfer für die Transformation von Weihnachten ins Metaverse gemeldet.“ Klaus fällt ein Stein vom Herzen! Erleichtert atmet er tief durch, während ihm Knecht Ruprecht die Hand auf die Schulter legt. „Das Beste kommt noch: Die da oben sind so zufrieden, dass wir in Sachen Digitalisierung ab sofort freie Hand haben.“ Der Weihnachtsmann lacht freudig auf. „Da bleibt mir wohl nur noch eines zu sagen: Fröööööhliche Weihnachten!“

Sie können nicht genug von den Abenteuern von Weihnachtsmann Klaus bekommen? Dann finden Sie mit "Der Weihnachtsmann und die Digitalisierung" hier Teil 1 der Geschichte. Hörbuchversion inklusive!